Bücher
Seltene antiquarische Bücher
Deutsche & internationale Antiquariate laden nach Stuttgart ein

Bücherleben – Bücher erzählen ihre Geschichte

Sonderausstellung bei der Antiquariatsmesse Stuttgart (26. bis 28. 1. 2024) im Württembergischen Kunstverein

Ein Gespräch mit Dr. Christian Herrmann, Abteilungsleiter Sondersammlungen Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, über die von ihm kuratierte Ausstellung.

Herr Dr. Herrmann, hinter Büchern steckt mehr als die vom Verleger vermittelte Geschichte, sie haben oft eine ganz eigene. Was hat Sie zu diesem Projekt motiviert?

Technische Neuerungen führen einerseits zwar häufig zu einer Steigerung von Effizienz und Produktivität. Andererseits hinterlässt die damit einhergehende Funktionalisierung meist eine Lücke. Das gilt auch für die Einführung des Buchdrucks.

Die gedruckten Partien sind in allen Exemplaren einer Auflage identisch. Aber doch war es den Menschen, die mit diesen Büchern zu tun hatten, ein Bedürfnis, das jeweils eigene Exemplar aus der Gesamtmenge einer Auflage herauszuheben, z.B. durch Besitzeinträge, Exlibris, Wappen, auch Einbände. Oder spezifische Merkmale eines Exemplars entstanden durch dessen Benutzung (z.B. handschriftliche Glossen, Zeichnungen, Beschädigungen).

Solche bewusst oder zufällig entstandenen Spuren von Individualität bilden eine eigene Inhaltsebene. Diese ist von der ursprünglichen Funktion der Informationsvermittlung, wie sie der Verleger im Sinn hatte, zu unterscheiden. Übrigens gilt das auch noch für die Zeit der industriellen Buchproduktion ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Einband als unterscheidendes Merkmal entfiel.

Ein Buchgeschenk als Artikulation einer geistigen Verwandtschaft

Loci theologici von Matthias Hafenreffer
Hafenreffer, Matthias: Loci theologici. Certâ methodô ac ratione in tres libros tributi Tübingen: Gruppenbach, 1609.

Matthias Hafenreffer (1561–1619), ab 1592 Theologieprofessor in Tübingen, gehörte zu den einflussreichsten Vertretern der lutherischen Orthodoxie.

Sein theologisches Kompendium erschien 1609 in vierter Auflage.

Das vorliegende Exemplar belegt, dass Hafenreffer seine Dozentur mit der Pflege persönlicher, quasi seelsorglicher Beziehungen zu seinen Studenten verband.

Dadurch entstand ein enges Lehrer-Schüler-Verhältnis.

Werke von Matthias Hafenreffer finden

Nach welchen Kriterien haben Sie sich dem Thema genähert?

Es ging mir darum, anhand konkreter Bände aus unseren Sammlungen eine Typologie unterschiedlicher Zusammenhänge zu entwickeln, in denen Bücher als Einzelstücke zu erzählen beginnen.

Dabei war z.B. zwischen der geplanten, jeweils ähnlichen Gestaltung von Bänden größerer Teilsammlungen einerseits und eher situationsbedingt entstandenen Merkmalen andererseits zu unterscheiden. Oder zwischen individuellen und institutionellen Vorbesitzern. Eher private, bilaterale Beziehungen, wie sie sich in Büchern widerspiegeln, sind etwas anderes als Vorgänge, denen eine größere öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwurde.

Auch die Intensität der Nutzung – etwa wenn Bücher zu Lebensbegleitern wurden oder sich mehrere Generationen in ihnen verewigten – war ein Kriterium.

Bibliotheken berühmter Sammler, Bücher, die Konflikte auslösen oder Kulturen verbinden, individuelle Gestaltung auf Wunsch des Besitzers und die vielen Spuren der Zeit; die Arbeit an diesem Thema ist so vielschichtig. Welche Buchbiografien haben Sie besonders berührt?

Unter den Beispielen, die in dieser Sonderausstellung zu sehen sind, hat mich die armenische Bibel von 1894 besonders berührt. Die Einträge zu Familienereignissen betreffen mehrere Generationen. Eine zeitliche Lücke betrifft die Zeit des Genozids an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, den ein Teil der Familie überlebte.

Dann hat mich, der ich selber ein ganz schlechter Koch bin, das Kochbuch von 1908 angesprochen. Ich bewundere es, wie hier auch über einen langen Zeitraum hinweg aus der praktischen Erfahrung heraus Ergänzungen hineingeschrieben oder eingeklebt wurden.

Die Konfirmandenbibel für einen blinden Prinz

Konfirmandenbibel für einen blinden Prinz
Luther, Martin (Übers.): Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des alten und neuen Testaments. Mit einer Vorrede vom Prälaten Hüffell, Karlsruhe ; Leipzig: Expedition der Carlsruher Bibel, 1837.

Diese Bibelausgabe erhielt Prinz Georg Friedrich Alexander Karl Ernst August von Hannover (1819–1878) zu seiner Konfirmation.

Bereits in jungen Jahren war er erblindet - Dokumente unterzeichnete er in Gegenwart vereidigter Zeugen.

Er regierte später als König Georg V. und war der letzte Herrscher des Königreichs Hannover, das 1866 von Preußen annektiert wurde.

Exemplare dieser Bibelausgabe finden

Sie sind in die Leben berühmter Bibliophiler eingetaucht, haben Widmungsexemplare, Exlibris, Notizen, Botschaften und Lebensläufe erforscht. Was haben Sie über die Menschen hinter den Büchern erfahren?

Sofern es um Bücher aus größeren Sammlungen geht, liegt immer auch ein bestimmtes Bildungsverständnis vor. Die „Bibliothek vaterländischer Autoren“ Herzog Karl Eugens diente auch der Selbstvergewisserung und Veranschaulichung seiner Begabtenförderung mit dem Ziel, eine für das Gemeinwesen nützliche Bildungselite zu schaffen. Hugo Borst wiederum dokumentierte mit seinen Erstausgaben, wie Geistes- und Buchgeschichte durch den Wandel der Zeiten hindurch miteinander verzahnt sind.

Dagegen konnte mit Widmungsexemplaren eine zunächst rein individuell-bilaterale Beziehung zwischen Geistesverwandten gepflegt werden.

Wichtig war in diesen drei Beispielen auch der Aspekt der Motivation zum Lesen und Sammeln.

Anders gelagert ist das, wenn es um das Verhältnis von Sein und Schein geht. So sollte das Buchgeschenk an einen Prinz die womöglich sonst beunruhigte Öffentlichkeit über dessen Blindheit hinwegtäuschen. Und ein meisterhafter Einbandfälscher lebte von der Sehnsucht vieler Bibliophiler nach vorzeigbaren Repräsentationsstücken.

Provenienzforschung beschäftigt heute die Antiquariate, Sammler und Bibliotheken gleichermaßen. Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus Ihrer Arbeit für die Ausstellung mit?

Die Provenienzforschung erhielt einen Schub öffentlicher Aufmerksamkeit einschließlich finanzieller Sondermittel erst, als es um politisch besonders brisante Konstellationen und die Rückgabe von Raubgut etwa aus der NS-Zeit ging. Antiquariate und Bibliotheken beschäftigen sich freilich schon länger mit dem Vorbesitz der jeweiligen Bücher.

Eine wichtige Erkenntnis aus einer systematischeren Dokumentation der Provenienzgeschichte, als deren Nebenprodukt sich auch Ausstellungen wie diese ergeben, ist jedoch, dass a) Provenienzen nicht primär unter moralischen, sondern historischen Kriterien betrachtet werden sollten, also nicht selektiv, sondern möglichst umfassend, wertneutral beobachtend; b) man dabei nicht nur nach dem Buchbesitz bekannter Persönlichkeiten (trotz deren hohen antiquarischen Marktwerts) recherchieren sollte, sondern gerade in den Zufalls- und Alltagsspuren der Buchrezeption gewöhnlicher Menschen eine große Aussagekraft im Hinblick auf Authentizität und Originalität liegen kann.

Ein meisterhafter Einbandfälscher

Fälschung eines Renaissance-Einbands im Grolier-Stil
Niger, Stephanus: Dialogus, quo quicquid in Graecarum literarum penetralibus reconditum, quod ad historiae veritatem ad fabularum oblectamenta [...] in lucem propagatur, Mailand: Minutianus, 1517.

Stephanus Niger (1475–1540), als Gräzist einer der führenden Köpfe des Mailänder Humanismus, bedachte im Vorwort und in einem Dedikationsgedicht seines Werkes eine bibliophile Persönlichkeit mit großer Anerkennung.

Es handelte sich um Jean Grolier de Servières (1479–1565), der von 1510 bis 1535 als Generalfeldzahlmeister und französischer Gesandter in Italien, dort vor allem in Rom und Mailand, tätig war. In dieser Zeit begann Grolier mit dem Sammeln von Büchern, die er in einer charakteristischen Weise mit Arabesken bzw. ornamentalen Bandwerkformationen verzieren ließ. Dieses Einbanddekor fand zahlreiche Nachahmungen in der Renaissance und wirkte als „Grolier-Stil“ prägend.

Allerdings handelt es sich um eine nahezu perfekte Einband-Fälschung. Aus der Renaissance stammt nur der alte Druck, für den der Einband angefertigt wurde und der so gut zur Biographie Groliers zu passen scheint.

Nicht Grolier und sein Umfeld haben den Einband hergestellt oder veranlasst, sondern der französische Buchbinder Louis (eigentlich: Théodore) Hagué (1822–1891), der ab 1868 in Paris und ab 1884 in Brüssel tätig war.

Hagué beherrschte die Buchbindekunst außerordentlich, gab seine Einbände allerdings als authentische Stücke des 16. Jahrhunderts aus. Von den 1860er Jahren an brachte er seine Produkte auf den antiquarischen Buchmarkt, agierte als vermeintlicher Antiquar unter dem französischen Pseudonym J. Caulin und erregte einige Verwunderung über seine schier unerschöpflichen Quellen hochwertiger Renaissance-Einbände fürstlicher Provenienz.

Der Betrug flog durch die Nachforschungen des Londoner Antiquars Bernard Quaritch (1819–1899) in den Jahren ab 1885 nach und nach auf.

Einbände von Théodore Hagué finden

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