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Über das politische Wirken der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm

Die weltberühmte Sammlung von Kinder- und Hausmärchen, die vom 20. Dezember 2012 an auf eine 200-jährige Editionsgeschichte zurückblicken kann, ist in den vergangenen Monaten ausgiebig gefeiert worden. Doch ihre Urheber, die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, waren weit mehr als nur Märchenonkel. Sie haben nicht nur volkstümliche Erzählungen gesammelt und verbreitet, sondern eine Bestandsaufnahme der deutschen Kultur gemacht. Sie haben die Sprachen Europas erforscht und ihren gemeinsamen Ursprung aufgedeckt. Und ganz nebenbei haben sie mit ihren Texten und Reden das politische Leben ihrer Zeit mitbestimmt.

Ausgebildet wurden die Brüder Grimm an der Universität Marburg, wo ihnen Friedrich Carl von Savigny, ein Professor für Rechtsgeschichte, die Arbeit mit historischen Quellen schmackhaft machte. Dementsprechend stand ihre erste Schaffensperiode, in die neben den Hausmärchen auch die Deutschen Sagen (1816, 1818) fallen, ganz im Zeichen des Sammelns überlieferter Texte. Der Zweck dieser Arbeitsweise ging allerdings über das bloße Aufbereiten „lautere(r) deutsche(r) Kost“ (Vorrede zu den Deutschen Sagen) hinaus; die Brüder Grimm versuchten vielmehr, die Volkspoesie als Ursprache fruchtbar zu machen und einen kulturellen Hintergrund heraufzubeschwören, auf den, wie Jacob Grimm es später einmal formulierte, „das Vaterland mit Stolz zurückschauen darf, weil alle Denkmäler unserer Vorzeit nicht nur die Gegenwart nähren, sondern auch in die Zukunft reichen sollen“ (Jacob Grimm, Rede Über den Werth der ungenauen Wissenschaften).

„Lassen Sie mich mit der einfachen Frage anheben: was ist ein Volk? Und ebenso einfach antworten: ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden. Das ist für uns Deutsche die unschuldigste und zugleich stolzeste Erklärung, weil sie mit einmal über das Gitter hinwegspringen und jetzt schon den Blick auf eine näher oder ferner liegende, aber ich darf wohl sagen einmal unausbleiblich heranrückende Zukunft lenken darf, wo alle Schranken fallen und das natürliche Gesetz anerkannt werden wird, daß nicht Flüsse, nicht Berge Völkerscheide bilden, sondern daß einem Volk, das über Berge und Ströme gedrungen ist, seine eigene Sprache allein die Grenze setzen kann.“

Die Betonung des Deutschen und Vaterländischen mag und sollte heutige Leser irritieren und dazu anregen, dem Werk der Grimms kritisch zu begegnen. Im Hinblick auf die Umstände der Zeit aber findet sich eine Erklärung, die den Nationalismus der Brüder als „läßliche Sünde“ erscheinen lässt, wie selbst der vehemente Grimm-Kritiker Walter Boehlich in den 1960ern einräumt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts tobten in Europa die Napoleonischen Kriege und viele der deutschen Staaten standen unter französischer Besatzung. Nach dem Wiener Kongress von 1814/15 ging zwar die Zeit der Okkupation zu Ende, das Land aber war erneut in Kleinstaaten unterteilt, die von reaktionären Fürsten regiert wurden. Die Freiheiten, die man sich von der Aufklärung versprochen hatte, waren in weite Ferne gerückt, und so fokussierten die Grimms ganz im Sinne der Romantik auf einen ursprünglichen „Volksgeist“, der den Deutschen eine echte Heimat geben sollte. Und das war zur damaligen Zeit mehr als nur ein ästhetisches Programm –die Idee einer gesamtdeutschen Kulturidentität bildete die Grundlage einer politischen Vision von Einigkeit und Freiheit, für deren Umsetzung die Brüder sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln einsetzten.

Dabei beschritten die Grimms nicht nur den Weg der Wissenschaft, sie traten auch mit Artikeln, Reden und Protestschreiben für ihre Ideale ein, die größtenteils in den Kleineren Schriften versammelt sind. Schon zur Zeit des Wiener Kongresses, an dem Jacob Grimm als Gesandter Kurhessens teilnahm, publizierten sie im Rheinischen Merkur Artikel , die sich mit der Neuordnung der europäischen Staatenwelt befassten. In ihrer Zeit an der Universität Göttingen machten sie sich für ein liberaleres Herrschaftssystem stark: In zwei Rezensionen kritisierte Jacob Grimm 1833 die Beschränkung der „Freiheit des Studierens“ (Rezension von Borés L’enseignement… in den Göttingischen gelehrten Schriften), 1837 lehnten sie sich gemeinsam mit fünf anderen Professoren als „Göttinger Sieben“ gegen die Abschaffung der relativ freiheitlichen Verfassung des Fürstentums Hannover auf und wurden der Universität und des Landes verwiesen. Jacob Grimm wurde schließlich 1848 zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche geladen, wo er nicht nur ein zügigeres Arbeiten des Verfassungsausschusses anmahnte, sondern auch einen Vorschlag für einen ersten Artikel der Grundrechte einbrachte:

Meine Herren! (…) Zu meiner Freude hat in dem Entwurf des Ausschusses unserer künftigen Grundrechte die Nachahmung der französischen Formel 'Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' gefehlt. Die Menschen sind nicht gleich, wie neulich schon bemerkt wurde, sie sind auch im Sinne der Grundrechte keine Brüder (…). Aber der Begriff von Freiheit ist ein so heiliger und wichtiger, daß es mir durchaus notwendig erscheint, ihn an die Spitze unserer Grundrechte zu stellen. Ich schlage also vor, daß der Artikel 1 des Vorschlages zum zweiten gemacht und dafür ein erster folgenden Inhalts eingeschaltet werde: Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.

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