Eclipse 2. Halbschatten (Social Fantasies)

Shirley, John

 
9783886199723: Eclipse 2. Halbschatten (Social Fantasies)

Über die Autorin bzw. den Autor

Der Musiker und Schriftsteller John Shirley, Vorreiter des modernen Cyberpunk, schrieb auch die Drehbücher für Fan-Serien wie "Star Trek - Deep Space 9" und "Poltergeist" sowie für den Kultfilm "The Crow". Von John Shirley erschienen im Argument Verlag: "Es werde Licht" (SF 2046), "Stadt geht los" (SF 2054), "Eclipse 1 - Sonnenfinsternis" (SF 2066).

Auszug. © Genehmigter Nachdruck. Alle Rechte vorbehalten.

Ein Mann und ein kleines Mädchen gingen an einem weißen Strand spazieren. Neben ihnen brandete die Karibik träge ans Ufer, Weiß auf kristallinem Blau. Der Mann war groß, dunkelhaarig und hager. Eine Krähe hockte auf seiner linken Schulter, den Kopf eingezogen, um sich vor der Sonne zu schützen. Das Mädchen war etwa neun oder zehn. Sie war dunkelbraun, und ihr welliges schwarzes Haar war in das leuchtend gelbe Tuch gehüllt, das die meisten Frauen der Insel Merino trugen. Der Mann war Jack Brendan Smoke. Das kleine Mädchen hieß Alouette. Smoke hatte sie vor ein paar Wochen adoptiert.
"Findest du, ich bin klug?" fragte sie ihn.
"Ja. Sehr."
"Warum erzählst du mir dann nie was?"
"Was denn?"
"Was du machst. Warum du hergekommen bist. Was deine Leute machen. Es ist was Besonderes, das weiß ich."
Er zögerte. Dann entschied er sich. "Also gut. Weißt du, was der Krieg in Europa angerichtet hat?"
"Die Armeen haben viele Städte zerstört, und die Menschen sind in Flüchtlingslager gegangen, und es gab Aufstände und Leute, die alles gestohlen haben ..."
"Genau. Die neuen Sowjets und die Vereinigten Staaten haben ihre Elefanten in den Porzellanläden der Welt losgelassen, und alle haben darunter gelitten. Deshalb hat die NATO ... weißt du, was die NATO ist?"
"Ja." Ein wenig verärgert. "Natürlich!"
"Okay. Die NATO hat das größte internationale Privatpolizei-Unternehmen angeheuert. Es hat Anti-Terror-Schwadronen und Söldner für alles Mögliche im Angebot. Es heißt Zweite Allianz. Wusstest du das?"
"Nein", gab sie zu.
"Die NATO hat sie als Polizeitruppe in Europa eingesetzt. Diese Leute waren selber schon eine große Armee. Es gab eine Verschwörung ... jedenfalls haben sie einen großen Teil von Europa hinter den Fronten besetzt. Sie haben die Macht an sich gerissen. Dann stellte sich raus, dass die Leute in den Führungspositionen Faschisten waren."
"Faschisten sind Nazis. Die hab ich in Filmen gesehen. Sie foltern Leute. Sie wollen alles beherrschen."
"Das stimmt, mehr oder weniger. Die ZA wird von solchen Typen angeführt. Sie glauben an rassische Reinheit. Genetische Reinheit. Sie haben Freunde in der Regierung. Vielleicht sogar die Präsidentin."
"Mrs. Bester?"
"Ja. Präsidentin Bester. Und ein paar große Konzerne. Die nutzen sie, um das Volk über die Medien zu beeinflussen. In den Vereinigten Staaten gibt es eine Wirtschaftskrise. Manche Leute glauben, Präsidentin Bester habe die neuen Sowjets provoziert - sie wollte einen Krieg, der der Wirtschaft und dem Big Business nützt. Jedenfalls setzen der Krieg und die Krise die Bevölkerung unter Druck, und so denken viele, der Faschismus könnte vielleicht ganz gut sein ... aus unterschiedlichen Gründen. Die Faschisten kontrollieren jetzt auch die Weltraumkolonie."
"Die Raumkolonie! Da wollte ich hin!"
"Ja?"
Sie nickte eifrig. "Das ist ein Bauwerk im Weltraum, größer als Merino. Es schwebt da draußen. Darin leben Tausende von Menschen. Da gibt es Bäume und alles, weit draußen im All. Es ist versiegelt, so dass die Luft nicht raus kann, und sie recyceln alles. Aber ..."
"Ja. Wenn wir sie den Faschisten wieder abgenommen haben, können wir ihr mal einen Besuch abstatten."
"Das ist also deine Arbeit? Sie ihnen abzunehmen?"
"Und Europa auch. Das ist die Arbeit vieler Menschen: Europa seinen Völkern zurückzugeben. Die ZA hat Marionettenführer eingesetzt, so dass die Menschen in Europa glauben, es wären ihre eigenen. Und die ZA wirbt für den Faschismus. Die Leute haben Hunger und Angst, sie wollen Ordnung. Der Faschismus verspricht ihnen Essen und Ordnung, also glauben sie, dass sie Faschismus wollen. Aber sie erkennen noch nicht, was er bedeutet: dass sie in Unfreiheit leben und ihre Mitmenschen hassen müssen."
"Wie kämpfst du gegen die ZA?"
"Wir bekämpfen sie mit Waffen und Informationen."
Sie sah ihn an. "Du musst mit Waffen kämpfen?"
Er legte ihr einen Arm um die Schultern. "Nein. Ich nicht. Ich kämpfe mit Worten und Ideen. Mit Waffen bin ich nicht gut. Leute wie Steinfeld und Stahlauge benutzen Waffen ..." Er lächelte. "Lass uns jetzt umkehren und etwas trinken. Ich hab Durst."
"Ja." Sie machten kehrt und gingen vom Wasser weg zur Siedlung. "Stahlauge", sagte sie, als sie fast an der Straße waren, "ist ein blöder Name."
Smoke lachte. "Da hast du Recht. Eigentlich heißt er Dan Torrence. Der Spitzname ist ihm jetzt etwas peinlich ..."
"Kann ich verstehen."
"Aber er ist ein guter Mann. Er hält sich nicht für besser als andere, und er hat sich mit Leib und Seele dem Widerstand verschrieben. Er hat gesehen, was Faschisten tun."
"Wie kommt jemand dazu, Faschist zu werden?"
"Unter bestimmten Umständen könnte fast jeder zum Faschisten werden. Wenn er genug Angst hat. Weißt du, die meisten Menschen schlafwandeln ihr Leben lang. Sie sind nicht richtig wach. Deshalb müssen wir so heftig dagegen ankämpfen. Weil der Faschismus nie ganz ausstirbt." (Shirley, John: Eclipse 2 - Halbschatten, 2002)

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